Strategisches UX Enablement
Artikel: Wie die Bahn bei der Digitalisierung den Menschen im Fokus behält
06/2024 – In einer komplexen Organisation wie der Deutschen Bahn entstehen Anwendungen und Systeme traditionell mit einem starken Fokus auf die zu entwickelnde Technik. DB Systel entwickelt mit DB Fernverkehr und DB Cargo Praktiken, um die Perspektive der Nutzenden von Anfang an in alle Projekte zu integrieren.
Bis ein Personenzug gewartet und gereinigt mitsamt Personal am Startbahnhof der Reise einfährt oder ein Güterzug mit den richtigen Containern auf dem Weg ist, müssen zunächst etliche komplizierte Prozesse richtig ineinandergreifen. In dieser technischen, hochkomplexen Umgebung sind die IT-Systeme und Anwendungen im Kern vor allem darauf ausgelegt, die betrieblich notwendigen Abläufe zu unterstützen sowie Sicherheit und Verlässlichkeit zu gewährleisten.
„Wir blicken häufig nur mit der technischen Ingenieurs-Brille auf Themen“, berichtet Tobias Schoenmüller, Senior Service Experience Design Manager bei DB Fernverkehr: „Wir vergessen aber, die Menschen als zentralen Teil der Digitalisierung einzubeziehen: Die Zugführer:innen, Disponent:innen, die Bordservice-Mitarbeitenden.“ IT-Verantwortliche und Software-Entwickler:innen haben deshalb in ihrem Alltag die Herausforderung, die vorhandene Komplexität der Bahn für die Nutzer:innen möglichst auf das jeweils Wesentliche zu abstrahieren. DB Cargo und DB Fernverkehr begegnen dieser Herausforderung heute gemeinsam mit angemessenen Strategien und Werkzeugen.
Tobias Schoenmüller sieht das „Zusammenspiel der Perspektiven Business, Technik und Mensch“ als zentrales Spannungsfeld im Projektalltag und fragt: „Spielt der Mensch in der Entwicklung neben Business und IT wirklich eine gleichwertige Rolle?“ Hier setzt im Fernverkehr „Service Experience Design“ (SxD) an. Dies ist die Kompetenz, um Produkte und Services für die Nutzenden möglichst intuitiv, zugänglich und ansprechend zu gestalten und gleichzeitig ihre Bedürfnisse und Erwartungen zu erfüllen. Das heißt: im Ergebnis eine gute User Experience als Ziel zu erreichen.
Bessere Nutzungserlebnisse sorgen für Effizienz und sparen Kosten
Es ist eine besondere Anstrengung, mit Lösungen zu arbeiten, die sich nicht intuitiv und effizient anfühlen: Es erfordert deutlich mehr Konzentration oder Vorwissen, eine Anwendung zu nutzen, die nicht für den jeweiligen Kontext optimiert ist. Dies gilt sowohl für Lösungen, über die Reisende und Kundenunternehmen mit der Bahn interagieren, als auch für die Apps und Webseiten, mit denen Mitarbeitende der Bahn jeden Tag arbeiten. Neben der Zufriedenheit der Nutzer:innen hat es weitere handfeste Vorteile, das Nutzungserlebnis stärker in den Fokus zu nehmen: Lösungen, die für Nutzer:innen einfacher und zielorientiert funktionieren, benötigen weniger Schulungs- und Supportaufwand, vermeiden Fehler und erlauben letztlich schnellere und reibungslose Betriebsabläufe.
In einem prozessgetriebenen Unternehmen wie der Bahn gibt es viele Bereiche, in denen einzelne Aktivitäten eine vorgesehene Durchlaufzeit haben, damit Pläne eingehalten werden können. Menschzentriert gestaltete Anwendungen machen es hier leichter, die gewünschten Ziele zu erreichen. „Es geht nicht darum, wie der Mensch als ‚Effizienzmaschine‘ besser wird“, erklärt Tobias Schoenmüller. Sondern es gehe darum, dass die Kolleg:innen ihren Job einfacher machen können und zufriedener dabei seien: „Das sorgt dann dafür, dass sie ihren Job gerne und noch besser machen können.“
Die Mensch-Perspektive auf Augenhöhe mit dem Geschäft und der Technik bringen
David Gilbert ist Chefberater für Digital Design & UX bei DB Systel. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren damit, Theorie und Praxis von menschzentrierter Lösungskonzeption („Human-Centered Design“) in den Bahnkonzern zu tragen. Mit weiteren Expert:innen bei DB Systel bietet er hierfür Unterstützung und gestaltet Lösungen für unterschiedliche Geschäftsbereiche der Deutschen Bahn, um dieses Bewusstsein und die Umsetzung im Alltag zu fördern.
Denn im Idealfall ist der Fokus auf die Perspektive der Nutzer:innen in der Konzeption und Entwicklung kein eigenständiger Schritt und keine abgetrennte Rolle, sondern ein natürlicher Bestandteil der Lösungsentwicklung: Alle Mitarbeitenden, die am Design von Services und Lösungen beteiligt sind, sollten den Blick für den jeweiligen Kontext und die Perspektive der Nutzer:innen haben. Gute UX entsteht als übergreifender und stetiger Prozess, der sich durch alle Phasen und Aufgaben in der Entwicklung von Software oder Services hindurchzieht.
Deshalb ist es den CIO-/CDO-Bereichen von DB Cargo und DB Fernverkehr wichtig, die Mensch-Perspektive strategisch – übergreifend und einheitlich – in ihrem Geschäftsbereich zu verankern. DB Systel hat mit beiden Geschäftseinheiten individuelle Strategien und jeweils passende Hilfsmittel entwickelt, um die menschzentrierte Entwicklung unternehmensweit in der Praxis umzusetzen. Das Ergebnis sind passende, bahnspezifische Werkzeuge und pragmatische Leitfäden für die jeweiligen geschäftlichen Kontext.
Ein UX-Werkzeugkasten für DB Fernverkehr
David Gilbert ist mit weiteren Kolleg:innen der DB Systel bereits seit rund vier Jahren in einer engen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Tobias Schoenmüller und den Kolleg:innen von DB Fernverkehr verbunden. In dieser Zeit haben sie gemeinsam Methoden und Werkzeuge speziell für die Anforderungen des Geschäftsbereichs entwickelt: „Wir wollten sicherstellen, dass die Mensch-Perspektive im Fernverkehr systematisch etabliert und professionalisiert wird“, erinnert sich Tobias Schoenmüller an den Startpunkt der gemeinsamen Zusammenarbeit. Wichtig war dabei von Beginn an, „diese Fähigkeit individuell passend für unser Unternehmen und zugleich skalierfähig zu machen und nicht einfach überzustülpen“. „Wir haben grundsätzlich damit begonnen, ein Rahmenwerk zu entwickeln, um das Thema User Experience in die Organisation zu tragen“, erinnert sich David Gilbert: „Das heißt, wir haben erarbeitet, wie sich dies besser in die bestehenden IT-Prozesse integrieren lässt, und was zentrale Prinzipien sind, die dort Orientierung bieten oder als Leitplanken funktionieren.“
Tobias Schoenmüller ergänzt: „Wir machen das, indem wir die Kolleg:innen an den richtigen Stellen befähigen.“ Dafür ist die eigens aufgebaute Infoplattform für „Service Experience Design“ (SxD) zuständig. Dies ist die zentrale Anlaufstelle für Mitarbeitende, wo sie unter anderem Prinzipien, Methoden und Werkzeuge wie Vorlagen für die Gestaltung einer guten User Experience bei DB Fernverkehr finden: Für alle Phasen und Aspekte der Entwicklung von Services gibt es hier passende Checklisten, Hilfsmittel und gemeinsame Standards. Ob Produktmanager:in, Entwickler:in oder Designer:in – hier finden alle die für sie wichtigen Grundsätze und Methodenbaukästen.
„Wir setzen zudem Qualitätsstandards für die Menschzentrierung in digitalen Produkten und Vorhaben, der UX-Reifegrad ist zum Beispiel so etwas“, ergänzt Tobias Schoenmüller. Dieser UX-Reifegrad und das zugrundeliegende Fähigkeitsmodell sind eigens entwickelte Evaluationswerkzeuge. Sie ermöglichen es, die User Experience von Projekten von Beginn an gezielt strategisch zu steuern. Deshalb kommt dies heute bei einer Auswahl strategischer Projekte bei DB Fernverkehr zum Einsatz. In mehreren Phasen eines Projektes erheben die Expert:innen hierbei anhand eines festgelegten Prozesses den Reifegrad, empfehlen Maßnahmen und prüfen anschließend erneut.
Einfacher Zugang zum komplexen Schienengüterverkehr
Auch im Güterverkehr spielt die User Experience mit zunehmender Digitalisierung eine immer größere Rolle. DB Cargo hat beispielsweise in den vergangenen Jahren den Kundenkontakt für die Mitarbeitenden digitalisiert. Zudem buchen Kundenunternehmen die vielfältigen Leistungen inzwischen sehr häufig selbst. IT- und Produktverantwortliche haben hier ebenfalls die Herausforderung, komplexe Prozesse des operativen Geschäfts in intuitiven digitalen Systemen abzubilden. Der Güterverkehr ist ein reines Geschäftskundenumfeld; viele beteiligte Unternehmen und Transportvarianten haben hier ihre jeweils eigenen Anforderungen und Abläufe – herausfordernde Voraussetzungen für digitale Werkzeuge.
DB Systel hat deshalb gemeinsam mit dem Bereich „IT Strategy, Architecture and Processes” von DB Cargo zuletzt eine UX-Strategie für alle Digitalisierungsmaßnahmen entwickelt. „Diese kommt genau zur richtigen Zeit, da im Rahmen unserer neuen IT-Strategie der DB Cargo das Handlungsfeld Komplexität besonders in den Fokus gerückt ist“, berichtet Kevin Hoffmeister. Er begleitet die Umsetzung der Digitalisierungsstrategie der DB Cargo im Auftrag des Vorstands. „Der Grundgedanke dahinter ist, dass die Komplexität der IT für Mitarbeitende und Kunden ganzheitlich reduziert wird“, so Kevin Hoffmeister. Die User Experience ist somit jetzt ein zentraler Baustein in der Digitalisierung der DB Cargo. In der Praxis kann dies beispielswiese bedeuten, durch Standardlösungen auf gemeinsamen Plattformen die Anzahl unterschiedlicher Anwendungen und Eigenentwicklungen zu reduzieren.
In der ersten Phase der Zusammenarbeit haben DB Cargo und DB Systel ein Zielbild definiert und unterschiedliche operative Wege dorthin ausgearbeitet. Aktuell arbeitet das Projektteam daran, wie konkrete Prozesse für nutzerzentrierte Services etabliert und in die Digitalisierungsprozesse integriert werden. Hier konnten die Erfahrungen und Methoden aus der jahrelangen Zusammenarbeit mit DB Fernverkehr als Vorlage dienen: „Es geht immer darum, das mit einem guten Gespür für den jeweiligen Kontext der Organisation einzubringen“, berichtet David Gilbert. Im Ergebnis bietet jetzt beispielsweise die so genannte „UX-Toolbox“ Mitarbeitenden bei DB Cargo – analog zur SxD-Plattform von DB Fernverkehr – die nötigen Informationen und Leitlinien für den Alltag.
Auch bei DB Cargo greifen die Maßnahmen für konsistente UX heute bereits direkt in die Projektpraxis ein und werden in die bestehenden Digitalisierungsprozesse integriert. Beispielsweise ist UX von Beginn an ein fester Bestandteil bei der aktuellen Weiterentwicklung des Kundenportals link2rail: „Ein wichtiger Aspekt dabei ist, notwendige Funktionen nicht durch zu viele Klicks zu verstecken“, berichtet Marina Ferrari, David Gilberts Kollegin in diesem Projekt: „Sondern durch gezielte Anordnung – wie zum Beispiel die Suchfelder in der Wagenübersicht – durch Filterkriterien einzuschränken, die die Suche beschleunigen.“
Gemeinsam die Nutzenden in den Mittelpunkt stellen
DB Systel, DB Cargo und DB Fernverkehr arbeiten heute in einem gemeinsamen, offenen Austausch daran, die User Experience für Mitarbeitende und Kund:innen weiter voranzutreiben, und verbessern damit die Nutzerfreundlichkeit von IT-Anwendungen im Konzern strategisch und nachhaltig. Die Domänenkenntnisse von DB Fernverkehr und DB Cargo ergänzen sich hier ideal mit der methodischen UX-Expertise und Erfahrung mit Konzernstandards von DB Systel. Die Schlüssel zum Erfolg in der Praxis seien „Partnerschaften, Tools, Wissensvermittlung und Expertise“, sagt Tobias Schoenmüller. Kevin Hoffmeister führt den Gedanken abschließend aus: „Wir sind ein großes Unternehmen und sollten auch weiterhin alle unsere Köpfe zusammenstecken, um unseren Mitarbeiter:innen und Kund:innen die bestmögliche User Experience zu bieten.“