Citizen Development bei der Deutschen Bahn
Artikel: 250.000 Eisenbahner:innen können eigene Apps entwickeln: der IT-Baukasten für alle
09/2024 – Was passiert, wenn wir Zehntausenden Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, mit einfachen Mitteln ihre eigenen IT-Anwendungen zu erschaffen? Es entsteht Raum für nahezu endlos viele Ideen und Erleichterungen des Arbeitsalltags. DB Systel hat die Einführung dieser neuen Werkzeuge begleitet.
Rund 250.000 Mitarbeitende der Bahn haben seit 2023 die Gelegenheit, auf eigene Faust Prozesse zu automatisieren und ohne professionelle Entwicklungskenntnisse neue Apps zu erschaffen. Alle im Konzern, die Zugriff auf Microsoft 365 haben, können jetzt eigene Hilfsmittel und Softwaretools gestalten. Möglich machen dies die Werkzeuge der „Power Platform“ von Microsoft. „Das ist eine flächendeckende Lizenzierung für alle Mitarbeitenden“, sagt Gerrit Müller, der im CIO-Team der Deutschen Bahn für Microsoft 365 Services im Konzern zuständig ist.
Automatisierungen und Apps per Klick erschaffen
Unter make.powerapps.com gelangen Bahn-Mitarbeitende direkt auf die Startseite der Plattform, können hier lernen, stöbern oder gleich loslegen. „Ich selbst habe mittlerweile ein Dutzend Automatismen für mich und mein Team gebaut“, berichtet Gerrit Müller. „Ich vergesse zum Beispiel nicht mehr, montags eine Erinnerung zu schicken, bis Mittwoch etwas in die Agenda-Liste einzutragen, denn es passiert automatisch.“ Joachim Heß von DB Systel hat die Einführung der Power Platform von Anfang an mit seinem Team begleitet: „Es gibt so viele Features, die plötzlich nutzbar wurden. So, wie die Power Platform bereitgestellt wurde, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten.“
Was ist Low-Code/No-Code-Entwicklung?
Low-Code/No-Code-Entwicklung (LCNC-Entwicklung) ist eine technologiegestützte Methode für Softwareentwicklung. Dabei werden visuelle Benutzeroberflächen und Modellierungstools verwendet, um Anwendungen mit minimalem manuellem Programmieraufwand zu erstellen. Es gibt anpassbare Vorlagen, vordefinierte Komponenten und direkt nutzbare Services, die mit Drag-and-Drop verknüpft werden können, um Anwendungen schnell und effizient zu erstellen.
Diese Plattform ist im Grunde eine Art Baukasten, der nahezu alle Funktionen und Daten aus dem Microsoft-Ökosystem der Bahn zusammenbringt und diese vielseitig nutzbar macht: „Power Automate“ erlaubt automatisierte Prozesse, in denen Mitarbeitende einen „Flow“ aus vordefinierten Abläufen zusammenfügen. Des weiteren gibt es „Power Apps“, also Anwendungen. Auch für Business Intelligence existiert eine eigene Kategorie. Damit erhalten alle Kolleg:innen völlig neue Möglichkeiten, aus den Informationen des Alltags mit vorkonfigurierten Funktionen und Logiken neue Helfer zu erstellen.
Fachabteilungen können offizielle Hilfsmittel entwerfen
Solche IT-Tools können im einfachsten Fall E-Mail-Anhänge automatisch abspeichern, bei bestimmten Vorgängen benachrichtigen oder sind kleine oder größere Anwendungen für Planung und Inventarisierung. So hat Christoph Schmitz von DB InfraGo mit dem Baukasten eine App entwickelt, die den Kolleg:innnen die Dokumentation der Anbringung von Gleisvermessungstargets an der Strecke deutlich erleichtert. Stephanie Schneider von DB Services hat das Schichtbuch der Sparte „Fahrzeugreinigung“ digitalisiert. Dieses erfasst Reinigungsleistungen jetzt in einer App statt auf einem Papierzettel und versendet die spezifischen Informationen automatisiert an die jeweiligen Verteilerkreise, sowie an die Kunden.
Diese Demokratisierung der Softwareentwicklung – die Möglichkeit, fachliche Anwendungen selbst zu erstellen, nennt man auch Citizen Development: „Fachbereiche können ihre IT selbst machen. Das ist das, wo wir hinwollen.“, sagt Joachim Heß von DB Systel. Dabei geht es nicht darum, die Digitalisierung zur Eigenverantwortung aller zu machen, sondern um die kleinen Dinge des Alltags. Denn im Geschäftsalltag seien manche Anforderungen in Fachbereichen eventuell zu klein, um ein IT-Projekt zu werden:
„In diesem Kontext wurden viele ‚Lösungen‘ mit Excel verwirklicht“, berichtet Joachim Heß. „Und plötzlich wurde Excel an manchen Stellen unverzichtbar, was nun wirklich niemand will.“ Jetzt können Abteilungen solche Eigengewächse mit offiziellen Hilfsmitteln ersetzen. „Mit der Power Platform ist für alle die Möglichkeit entstanden, auf einer professionellen Plattform mit zielgerichteter Unterstützung Anwendungen aufzuziehen. Und diese haben aufgrund der mit der Power Platform angebotenen Schnittstellen, einem implementierbaren Rechte- und Rollenkonzept, einer verbesserten Nutzererfahrung, erhöhter Performance und vieler weiteren Mehrwerte Vorteile gegenüber einem jahrelang gewachsenen Excel-Konstrukt.“
„Low Code gab es auch schon vor der Power Platform im DB-Konzern“, erinnert Joachim Heß. „Wir haben diverse Technologien, die Low Code ‚klassisch‘ einsetzen. Klassisch heißt, ein Fachbereich hat fachliche Anforderungen, und die IT setzt diese mit den Vorteilen von Low Code um. Low Code bedeutet ja: vorgefertigte Komponenten und Module in einer Plattform, die man nutzen und für sich anpassen kann. Trotzdem birgt diese ‚klassische‘ Vorgehensweise das Risiko von Missverständnissen, da Fachbereiche die technologischen Limitationen und die IT die fachlichen Notwendigkeiten nicht kennen.“
Die richtigen Startbedingungen für Fachabteilungen schaffen
Das Konzept der IT-Selbstversorgung ist dagegen neu. In diesem Projekt war es allen Beteiligten besonders wichtig, den Fachabteilungen den Start in die Low-Code-Entwicklung so einfach wie möglich zu machen: „Da war die Frage, wie können wir das Potenzial ausschöpfen und wie bekommen wir diejenigen motiviert, die bisher nicht in der Entwicklung aktiv sind, aber gute Ideen haben?“, so Gerrit Müller zur Ausgangsfrage des Projekts. Die Plattform und Funktionen kamen hier nutzungsfertig vom strategischen IT-Partner Microsoft, deshalb lag der Fokus im Projekt darauf, begleitende Anleitungen sowie Leitlinien zu schaffen und vor allem für Inspiration und Motivation zu sorgen.
Einblick in die DB Power Platform
Bevor die Power Platform für die Mitarbeitenden freigegeben wurde, hat die Konzern-IT deshalb gemeinsam mit DB Systel einen Rahmen geschaffen, in dem der neue IT-Baukasten bei der Bahn leben soll: „Wir hatten ein neun Monate laufendes Einführungsprojekt, in dem wir die Prozesse aufgesetzt haben, die im Hintergrund dafür Sorge tragen, dass die Vorgaben aus Governance, Mitbestimmung und Datenschutz für die Mitarbeitenden so einfach wie möglich eingehalten und überprüft werden.“ Ein weiterer wichtiger Grundlagenaspekt war das Teilen von Wissen und Beispielen: Es sollte von Beginn an eine interne Community entstehen, und Mitarbeitende sollen ihre Ergebnisse als Vorlage oder fertiges Werkzeug auch mit anderen Teams teilen können. Auch für Anwendungsvorlagen in Bahn-Anmutung hat das Team der DB Systel dabei bereits von Beginn an gesorgt.
Revolutionäre Low-Code-Entwicklung und smarte Applikationshülsen
Ein weiteres Ergebnis der Vorarbeit ist die Anwendung namens „PALM“, die im Hintergrund aufpasst, dass die so entstehenden Apps und Prozesse sich an die Konzernrichtlinien halten und nichts kaputt machen können. Denn Power Apps und eigene Hilfsmittel für Business Intelligence könnten Geschäftsdaten auch wieder zurückspielen. Die selbst erstellten Anwendungen sind für sich selbst oder das eigene Team gedacht. Sie leben ausschließlich innerhalb des Microsoft-365-Ökosystems. Auch heute gibt es zusätzlich weiterhin die Möglichkeit, Low-Code-Entwicklung mit professioneller Unterstützung der DB Systel (Link nur für Mitarbeitende der Bahn erreichbar) einzusetzen. Dies ist für Anwendungen gedacht, die beispielsweise für einen breiteren Nutzer:innenkreis bestimmt sind oder zusätzliche Daten, Berechtigungen oder Schnittstellen benötigen.
Die Plattform bietet Fachabteilungen die Möglichkeit, bestehende Elemente mehrfach zu verwenden: „Wir haben das früher Applikationshülse genannt. Wenn ich eine App habe, die zum Beispiel den Bestand von PCs verwaltet, dann gibt es Attribute wie: ‚so groß ist die SSD, so groß ist der Bildschirm‘. Bei einem Radsatz, der im Lager liegt, ist das genauso“, sagt Joachim Heß. „Der hat ein bestimmtes Gewicht, der hat eine bestimmte Größe, der passt zu bestimmten Zugtypen. Ich kann diese Applikationshülse also für einen anderen Bereich umfunktionieren, ohne das als neues IT-Projekt aufsetzen zu müssen.“
Neue Schulungen für Interessierte
„Wir haben seit der Einführung eigentlich Monat für Monat gelernt: Wie funktioniert die Community? Sind die Bedarfe richtig gesetzt? Passen die Leitplanken?“, sagt Gerrit Müller. „Es vergeht kein Monat, in dem wir nichts optimieren.“ Eine der wichtigsten Aufgaben ist hier noch die interne Bekanntheit der Plattform: „Wir hätten uns gewünscht, dass schon mehr Menschen sie aktiv einsetzen, als es heute der Fall ist“, sagt Joachim Heß „Auf der anderen Seite stellen wir aber fest, dass diese Community immer mehr wächst und schon sehr viele kreative Anwendungen entstanden sind.“
Diese interne Community um die Plattform hat bereits Tausende aktiv Teilnehmende: „Aber das Potenzial ist eben noch viel, viel größer“, ist Gerrit Müller überzeugt. „Es gibt viele, die sich fragen: Kann ich das? Mache ich vielleicht etwas kaputt?“ Schulungen sind deshalb essenziell. In einer ersten Schulungsinitiative waren 2.100 Schulungsplätze bereits nach sieben Stunden ausgebucht, auch zusätzliche Plätze innerhalb von Minuten vergeben. Aktuell laufen die Vorbereitungen für eine weitere Serie an Schulungen mit noch weit mehr Kapazität – damit aus noch mehr Neugierigen neue Citizen Developer bei der Deutschen Bahn werden.