DB Wegbegleitung hält blinde und sehbeeinträchtigte Reisende trotz Streckensperrungen und Umwegen mobil

Zum Inhalt springen

Artikel: DB Wegbegleitung hält blinde und sehbeeinträchtigte Reisende trotz Streckensperrungen und Umwegen mobil

01/2024 – Mit fokussierter, agiler Zusammenarbeit haben DB Regio und DB Systel in kürzester Zeit eine Accessibility-Lösung in die Praxis gebracht. Die DB Wegbegleitung hat dabei ausschließlich positives Feedback der Beteiligten und Nutzer:innen erhalten. Blinde oder sehbeeinträchtigte Reisende können damit trotz Streckensperrungen und Ersatzverkehr selbstständig mobil bleiben.

Für blinde und sehbeeinträchtigte Reisende ist die Bahn das wichtigste Verkehrsmittel, um sich selbstständig im Alltag fortbewegen zu können. Die Deutsche Bahn saniert das Schienennetz an vielen Stellen, um mit den Anforderungen der Zukunft Schritt zu halten. Was Reisenden in der Zukunft Zeit sparen und mehr Verbindungen erlauben wird, bedeutet für die Gegenwart leider Unannehmlichkeiten wie Baustellen und Ersatzverkehr. Für blinde oder sehbeeinträchtigte Menschen sind solche Änderungen und Umwege eine besonders große Herausforderung. Während der Baustelle an der Strecke zwischen Nürnberg und Würzburg hat das Pilotprojekt „DB Wegbegleitung“ Reisende per Smartphone sicher vom Bahnsteig zum Ersatzverkehr gelotst. Dies hat gezeigt, dass auch einfache und schnelle digitale Lösungen für eine kleine Gruppe Reisender eine große Unterstützung sein können.  

Sehbeeinträchtigten und blinden Reisenden Orientierung trotz Umwegen ermöglichen

An den Bahnhöfen finden wir im Alltag bereits zahlreiche Einrichtungen, die es Reisenden mit Einschränkungen ermöglichen, sich selbstständig zu orientieren. Von den sichtbaren Leitstreifen (den Rillen im Boden) über Sprachansagen als akustischen Abfahrtsplan: Auf ihren gewohnten Strecken sind viele Menschen mit Sehbeeinträchtigung routiniert und sicher unterwegs. Ausgeschilderte Umwege zu Ersatzhaltestellen sind für sie dagegen eine große Herausforderung. Hier kann die Mobilitätsservice-Zentrale (MSZ) der Bahn helfen. Sie begleitet auf Anfrage durch den Bahnhof und hilft bei Umstiegen. Doch sie muss einen Tag im Voraus angemeldet werden, um die Kolleg:innen vor Ort zu koordinieren. Die digitale DB Wegbegleitung hatte deshalb ausdrücklich das Ziel, auch spontane Reisen zu erleichtern.  

Lisa Heise kümmert sich bei DB Regio um Produktinnovation und Produktmanagement für die Themen „mobilitätseingeschränkte Reisende und Reisendeninformation“. Sie suchte nach zusätzlicher Unterstützung im Ersatzverkehr speziell für Reisende mit Einschränkungen. „Das Stichwort ist hier selbstbestimmtes Reisen“, sagt Lisa. Denn insbesondere der Regionalverkehr wird im Schnitt spontaner genutzt als der Fernverkehr und eignet sich wegen des großen Platzangebots besonders gut für Reisende mit Einschränkungen.  

Die Strecke Nürnberg-Würzburg war ein solches Beispiel, wo die Verbindung wegen Bauarbeiten im Jahr 2023 einige Zeit punktuell unterbrochen war. Reisende sind hier zwischen unterschiedlichen Haltestellen auf den Bus umgestiegen. Die Deutsche Bahn hat diese geplanten Streckenschließungen zum Anlass genommen, unter dem Dach des übergreifenden Programms „Neuer Ersatzverkehr“ Hunderte Ideen zu prüfen und daraus zahlreiche Maßnahmen zu entwickeln, die den Ersatzverkehr so einfach wie möglich machen. So weisen beispielsweise Bildschirme und farbig eindeutige Markierungen den Reisenden den Weg vom Bahnsteig zu den jeweiligen Haltestellen – oft mitsamt der jeweiligen Entfernung. Neue Busse mit Fahrradträgern bieten Reisenden den größtmöglichen Komfort.

DB-Wegbegleitung - Sicht der Reisenden
DB-Wegbegleitung - Sicht der Reisenden
„Für uns war es schön, im Rahmen des Ersatzverkehrs auch für die Zielgruppe der mobilitätseingeschränkten Reisenden etwas anzubieten. Meistens denkt man hier vor allem an Zugänge für Menschen mit Rollstuhl. Umso schöner fand ich es, etwas auszuprobieren, das für eine andere Zielgruppe eine Lösung bietet. Der Fokus lag darauf, das gesamte Reiseerlebnis besser zu machen.“

Lisa Heise, Produktinnovation und Produktmanagement, DB Regio AG

Foto_Lisa Heise_DB Wegbegleitung_1000x1000px


In wenigen Wochen zum fertigen Pilotprojekt 

Die gesamte Projektlaufzeit hat bis zum Start nur 13 Wochen gedauert. Damit war dieses Projekt nicht nur ein neuer Ansatz mit großem Potenzial, sondern ist auch besonders schnell über die Bühne gegangen. Die DB Wegbegleitung war als Projekt von Beginn an ein ideales Zusammenspiel von Zeitpunkt und Gelegenheit: Lisa Heise und das Team der DB Regio wollten den anstehenden Ersatzverkehr mit neuen Möglichkeiten aufwerten und möglichst barrierefrei umsetzen: „Wir hatten ein Projekt, wo wir bei allem eine Schippe mehr machen wollten“, erinnert sich Lisa Heise. So kam der Kontakt zu DB Systel und dem Team von Marcus Sümnick zustande.

Marcus arbeitet bei DB Systel wiederum bereits seit Jahren an unterschiedlichen Accessibility-Lösungen für Reisende. Beispielsweise hatte er mit seinem Team den Prototypen einer App entwickelt, der es blinden und sehbeeinträchtigten Reisenden ermöglichen konnte, offene Türen am Zug oder Bahnhof per Smartphone-Kamera automatisch zu erkennen. So kam ihm die Idee für eine videogestützte Begleitung bei der Orientierung am Bahnhof. Denn er wusste von sehbeeinträchtigten Arbeitskolleg:innen, dass es relativ üblich ist, Freunde und Familie per Videoanruf bei der Wegfindung um Hilfe zu bitten. Gemeinsam mit Marvin Küfner, der sich um das Anforderungsmanagement digitaler Produkte der DB Regio kümmert, starteten DB Systel und DB Regio in dieses zeitlich knapp bemessene Projekt. 

Marcus erinnert sich begeistert, wie sehr beide Seiten von Beginn an auf die wesentlichen Eigenschaften des Projektes fokussiert waren. So konnten die Teams die Anforderungen auf kurzem Wege und in agiler Manier ohne übermäßige Dokumentation finalisieren, dabei jedoch jederzeit den Kernnutzen im Blick behalten. Die konkreten Aufgaben für die Entwicklung und UX-Designer:innen waren somit schnell klar. Eine Registrierung gibt es beispielsweise nicht. Dies war eines der Features, die nicht essenziell waren. Anrufer:innen müssen nur den Nutzungsbedingungen zustimmen und können sofort mit den Mitarbeiter:innen sprechen. 

Sicht Operator
Die interne Ansicht für die Mitarbeiter:innen des Kundencenters: Sie sehen das Kamerabild und eine Umgebungskarte mitsamt ungefährem Standort.


Zudem half es bei der Umsetzung sehr, bestehende Lösungen zu integrieren, statt eigene Komponenten zu entwickeln. Dies ist schneller und skalierbarer. Die DB Wegbegleitung basiert auf reiner Webtechnologie, sowohl die interne Webseite und Sicht für die Operator:innen im Kundencenter als auch die Seite der Nutzer:innen. „Die Grundtechnologie haben wir aus dem Regal genommen und so für uns eingerichtet, dass es passt“, sagt Marcus. Für die essenzielle Komponente der Videoübertragung wählte DB Systel die Azure Communication Services. Dies ist die gleiche Technik der Videoübertragung, auf der auch Videokonferenzen mit Microsoft Teams basieren. „Wir mussten uns zu keiner Zeit Gedanken machen, ob Ressourcen knapp werden können“. In diesem Anwendungsfall ermöglicht diese Technikgrundlage nicht nur Bild- und Tonübertragung, sondern auch GPS-Ortung und zudem einen integrierten Wartebereich, falls aktuell kein:e Operator:in verfügbar ist.  

„Wir haben gemeinsam gezeigt, dass wir agile Zusammenarbeit gut können und uns im positivsten Sinne Stück für Stück vortasten. Dass wir ohne falsche Erwartungen eine Lösung bauen, die gut bei den Reisenden ankommt und tatsächlich hilft.“

Marcus Sümnick, Product Owner Technology for Accessibility, DB Systel

Foto_Marcus Sümnick_DB Wegbegleitung_1000x1000px


Die DB Wegbegleitung ist nicht nur ein IT-Projekt, sondern sie bringt vor allem Menschen zusammen. Deshalb war es essenziell, begeisterte Kolleg:innen zu finden, die sich für die Mobilität von Menschen mit Sehbeeinträchtigung einsetzen wollten. Wegen des geplanten Ersatzverkehrs in Bayern gab es bereits den Kontakt zu den regionalen Kolleg:innen für Kundendialog und die Streckenagent:innen. Diese waren sofort bereit, die Rolle der Operator:innen zu übernehmen, die Anrufer:innen im Pilotprojekt vom Computer aus durch den Bahnhof leiten. Kurzfristig wurden alle nötigen Informationen gesammelt, Material erstellt und Schulungen mit Testpersonen gehalten, damit die Operator:innen selbst Testanrufe im Bahnhof in Aktion sehen konnten.  

DB Wegbegleitung in der Praxis 

Das Pilotprojekt „DB Wegbegleitung“ lief während der Streckensperrung von August bis September 2023. Wenn blinde oder sehbeeinträchtigte Reisende am Bahnhof eine Begleitung auf dem Weg zur Ersatzhaltestelle suchten, konnten sie ganz einfach einen QR-Code einscannen, den sie auf einem Flyer fanden – der selbstverständlich mit Braille beschriftet war. Dies öffnete die Webseite mit dem Videoanruf für die Reisenden und stellte die Verbindung mit dem Kundencenter her. Da dies ein örtlich begrenztes Pilotprojekt mit minimaler Vorlaufzeit war, gab es kaum Zeit, die breite Masse der Reisenden zu informieren. Dennoch ergaben sich zahlreiche Möglichkeiten, diese Idee Betroffenen gezielt vorzuführen und Tests mit Betroffenen zu machen, um gezielte Rückmeldungen zu erhalten. 


Marcus erinnert sich, dass die Testgruppen zunächst anhand der Theorie teils skeptisch waren. Diese Tester:innen waren beispielsweise Vertreter:innen von Interessenverbänden für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen. Nach der Befragung und Praxiserfahrung schlug diese Skepsis jedoch in das Gegenteil um: Viele wünschten sich sogar, ein solches Angebot möglichst schnell deutschlandweit verfügbar zu haben. Auch das Feedback der Kolleg:innen aus dem Kundendialog war überaus positiv: Sie fanden das neue Angebot spannend und sahen sofort den Mehrwert für die Reisenden. 

In der Vorbereitung des Projektes gab es noch Bedenken: „In der Theorie gab es viele Fragen: Wie ist es denn rechtlich? Wer haftet denn?“, erinnert sich Marcus. Die Kolleg:innen aus dem Kundencenter hatten die Sorge, dass die Reisenden bei der Begleitung am Bahnhof beispielsweise stürzen könnten. „In der Schulung mit sehbehinderten Menschen haben sie dann gesehen, wie sicher diese unterwegs sind. Es ist viel leichter, als man denkt. Man muss nicht jede Stufe ankündigen, sondern die Reisenden wünschen sich vor allem Hinweise und Orientierung.“ Die direkte Kommunikation zwischen Reisenden und den Mitarbeiter:innen mag wie ein Flaschenhals für eine skalierbare digitale Lösung wirken. Doch tatsächlich, so berichtet Marcus Sümnick, sei die Begleitung mit zentralen Kontaktcentern in der Praxis wesentlich einfacher, denn es muss niemand vor Ort auf die Reisenden warten: „Den Menschen fällt es leichter, in Situationen zu reisen, wo sie sonst sagen würden: ‚Da reise ich nicht‘. Weil sie diese Rückfallebene haben: ‚Ich kann da anrufen‘.“ 

DB Wegbegleitung geht weiter 

Auch nach dem Ende des Pilotprojektes arbeitet DB Systel weiter an dieser Lösung und wird sich dafür einsetzen, ein solches Angebot in die breite Praxis zu bringen. Das Team um Marcus Sümnick experimentiert zudem mit KI-Lösungen, um weitere mögliche Anwendungsfälle zu schaffen oder die bestehende Lösung damit zu erweitern. Die DB Wegbegleitung zeigt, wie Reisende mit eingeschränktem Sehvermögen auch unter erschwerten Umständen wie im Falle von Ersatzverkehr sicher und selbstständig reisen können. Das Projekt zeigt auch, wie DB Systel und Konzernpartner eine sich bietende Gelegenheit ideal nutzen können und in kürzester Zeit ein Projekt umsetzen, dass die Mobilität von Reisenden verbessert. Blinde und sehbeeinträchtigte Reisende erhalten mehr Flexibilität und bewahren ihre Mobilität – auch unter besonderen Umständen.  

Dies könnte dich auch interessieren