Mobilität für alle
Artikel: Wie digitale Unterstützung barrierefreies Reisen ermöglicht
Die Bahn ist bereits heute das beste Verkehrsmittel für viele Menschen mit Behinderungen, die eigenständig reisen wollen. Doch noch immer gibt es Barrieren an unterschiedlichen Stellen der Reisekette. DB Systel und DB InfraGO setzen sich mit digitaler Unterstützung dafür ein, möglichst viele dieser verbleibenden Hürden abzubauen. Dies kann beispielsweise Personen mit Blindheit dabei helfen, sich am Bahnhof zu orientieren, oder Menschen mit Mobilitätseinschränkungen tatkräftige Unterstützung beim Ein- und Umsteigen verschaffen.
Damit das Reisen für alle in der Praxis funktioniert, müssen zahlreiche Stellen zusammenarbeiten und viele Voraussetzungen stimmen. Denn hier treffen unterschiedliche Züge, komplexe Reiseketten, verzweigte Bahninfrastruktur und das Zusammenwirken von Menschen aufeinander. Ein großer Teil der Arbeit, um barrierefreies Reisen zu ermöglichen, besteht deshalb zunächst darin, den Betroffenen und Interessenvertreter:innen zuzuhören, sowie sich die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort anzusehen. Mit Praxisversuchen und experimenteller Technik werden Ideen und Thesen dann handfest ausprobiert.
DB InfraGO und DB Systel haben zuletzt über viele Monate mit einer großen Auswertung die Anforderungen unter Reisenden untersucht, dabei Handlungsfelder ermittelt und digitale Barrieren abgebaut. Das Team „Solutions for Accessibility“ der DB Systel kümmert sich um diese Grundlagenarbeit, Konzeption und Umsetzung von Ideen und Lösungen für das barrierefreie Reisen. „Reisende mit Seheinschränkungen haben uns bei Befragungen berichtet, dass sie Reisen ohne Begleitperson aus Unsicherheitsgründen oft nicht antreten“, erinnert sich Marcus Sümnick, Product Owner dieses Teams bei DB Systel. „Und da können wir einen riesigen Unterschied machen.“
„Was mich besonders freut: dass die Deutsche Bahn auch als DB wahrgenommen wird. Dass wir das jetzt nach innen leben und gemeinsam Hand in Hand als DB agieren und nicht an Geschäftsfeldgrenzen oder Organisationseinheiten Halt machen.“
Barrieren sind vielfältig
Barrierefreiheit hat viele Facetten. Dies beginnt dabei, Apps, Webseiten oder andere Informationsquellen mit den Prinzipien inklusiver User Experience (UX) so zu entwickeln, dass sie beispielsweise maschinenlesbar sind. Marcus Sümnick und sein Team erforschen, testen und entwickeln unterschiedliche digitale Angebote, die Menschen mit Einschränkungen dabei helfen können, sich am Bahnhof zu orientieren. Die Voraussetzungen sind dabei sehr unterschiedlich.
„Es gibt eine große Vielfalt an Einschränkungen, die Personen in ihrem Alltag haben“, beschreibt Anselm Reineke, der bei DB InfraGO für Services und Dienstleistungen an den Bahnhöfen verantwortlich ist. Dies können beispielsweise Menschen mit Sehbeeinträchtigung sein oder diejenigen, die auf Hilfsmittel wie einen Rollstuhl angewiesen sind. Aber auch Reisende mit Hypersensibilität, Sportverletzungen oder Personen, die mit mehreren Kindern reisen, benötigen manchmal Unterstützung am Bahnhof. „Deshalb muss man Barrierefreiheit immer etwas größer denken“, so Anselm Reineke. Auch das steigende Durchschnittsalter in der Gesellschaft sorge dafür, dass immer mehr Menschen im Alltag Barrieren erfahren.
Die Hürde am Bahnsteig
Eine wichtige Handlungsebene, um Barrieren abzubauen und den Zugang zu erleichtern, sind die physischen, baulichen Voraussetzungen am Bahnhof, beispielsweise durch Aufzüge für stufenfreien Zugang und Leitsysteme wie die taktilen Leitstreifen für Langstöcke blinder Menschen. Informationen zu barrierefreien Zugängen und ob alle Aufzüge funktionieren, sind für die Planung der Anreise digital verfügbar: „Damit haben wir zunächst den Bahnhof barrierefrei erschlossen“, so Anselm Reineke. „Nun geht es darum: wie kommen denn die Personen auch in den Zug?“, beschreibt der Verantwortliche für den Bahnhofsservice. „In diesem Zusammenspiel zwischen Infrastruktur und Zug entstehen regelmäßig Barrieren.“
Denn an den über 5.400 Bahnhöfen der DB InfraGO halten viele unterschiedliche Fahrzeugtypen von bundesweit über 100 unterschiedlichen Betreibern für den Nah- und Fernverkehr. Unterschiedliche Einstiegshöhen oder Türen der Züge machen Ein- und Umstiege deshalb manchmal mehr oder weniger herausfordernd für Reisende mit Einschränkungen. „Das ist eine zentrale Barriere, die wir überbrücken wollen und dafür gibt es den Mobilitätsservice“, erklärt Anselm Reineke. Dieser Mobilitätsservice besteht in der Praxis daraus, dass Mitarbeitende am Bahnhof Reisende persönlich, beispielsweise beim Ein- und Umstieg oder auch auf dem Weg zum Zug unterstützen.
Diesen Service müssen Reisende jedoch zunächst anmelden und Mitarbeitende koordinieren diesen: „Und bei diesem Thema setzt jetzt das zentrale Projekt Mobility for All an, um den Prozess zu digitalisieren und auf die nächste Stufe zu heben“, so Anselm Reineke. Unter diesem Dach setzt DB InfraGO mit DB Systel die Koordination der Unterstützung am Bahnhof von Grund auf neu um. Das Projekt ist auf mehrere Jahre ausgelegt: „Wir wollen diese Barriere möglichst gering halten, damit diese Personen möglichst selbstbestimmt reisen können: wann sie wollen und wie sie wollen“, so Anselm Reineke.
Gemeinsam bedarfsgerechte Lösungen finden
Neue Strukturen bei DB InfraGO, die inzwischen als gemeinwohlorientiertes Unternehmen ausgerichtet ist, und die Erfahrung der Accessibility-Expert:innen der DB Systel ermöglichen es, den Prozess und die Technik dahinter den Anforderungen entsprechend nach und nach neu zu entwerfen. Denn in der Vergangenheit gehörten die Mitarbeitenden, die sich um die Anmeldungen kümmerten, zu DB Vertrieb: „Wir haben die Verantwortung für die Mobilitätsservice-Zentrale jetzt zu uns in die Infrastruktur geholt, um sie diskriminierungsfrei für die gesamte Branche anzubieten“, so Anselm Reineke. Die Bahnhofsverantwortlichen können die Unterstützung heute zentral für alle Verkehrsunternehmen organisieren. Eine neue Schnittstelle erlaubt zudem den Datenaustausch zwischen DB InfraGO und allen Verkehrsunternehmen. So erfahren auch die Zugbegleiter:innen, dass beispielsweise an einem Halt eine Reisende im Rollstuhl zusteigen wird und können entsprechend planen.
Als ersten Schritt haben DB InfraGO und DB Systel den gesamten Prozess vom Reisewunsch bis zum Bahnhof gründlich analysiert. Um ein umfassendes Bild des Prozesses zu erarbeiten, wurden Interviews mit Mitarbeitenden der Koordination, am Bahnhof sowie von DB Fernverkehr, DB Regio und der Partnerbahnen durchgeführt. Diese sind an den verschiedenen Stellen der Reisekette für die Planung und Durchführung einer Hilfeleistung zuständig. In Kombination mit Gesprächen mit Reisenden und zahlreiche Ortsbesichtigungen wurden die nötigen Anforderungen ausgearbeitet: „Es war wichtig, dass das, was wir digital umsetzen, zur analogen Realität passt. Dass wir diese analogen Abläufe unterstützen und wir nicht digitale Parallelrealitäten schaffen, die nicht helfen“, so Marcus Sümnick.
Digital um Unterstützung bitten
Der Großteil der Anfragen erreicht die Zentrale über ein zentrales Kontaktformular. Früher war dieses in externer Hand, inzwischen betreut DB InfraGO es selbst und hat dieses gemeinsam mit DB Systel als ersten Schritt völlig neu entwickelt: „Wir haben das Anmeldeformular barrierefrei gestaltet und komplett neu aufgesetzt, sodass wir agil weiter daran entwickeln können“, freut sich Anselm Reineke. Marcus Sümnick: „Man kann in dem Formular sehr offen kommunizieren, welche Unterstützung man braucht.“
Davon abhängig leitet das Formular durch den Prozess und stellt passende Fragen. Zentrale Datenquellen im Hintergrund sorgen heute dafür, dass Nutzer:innen nicht mehr versehentlich missverständliche Angaben, beispielsweise zum Treffpunkt, eingeben können. Denn die Anfragen und Aufträge müssen für die Mitarbeitenden am Bahnhof eine verlässliche Arbeitsgrundlage bilden, um einen stabilen Prozess für die Reisenden zu gewährleisten; durch die Unwägbarkeiten im Bahnbetrieb kommt es hier im Alltag immer wieder zu kurzfristigen Änderungen.
„Da sind wir derzeit noch relativ analog unterwegs, was in einer Welt, in der wir Pünktlichkeitszahlen von 60 Prozent haben, nicht mehr ideal funktioniert.“ Wenn sich Fahrten durch die Tücken des Betriebs verspäten, den Bahnsteig wechseln oder mit einem anderen Fahrzeugmodell unterwegs sind, „dann hat die Planung von Mobilitätshilfeleistungen vom Vortag faktisch keine Gültigkeit mehr“, so Anselm Reineke. So ändern sich die sorgsam geplanten Aufträge der Mitarbeitenden vor Ort immer wieder sehr kurzfristig. Im nächsten Schritt wird deshalb die Disposition der Mitarbeitenden am Bahnhof selbst stärker digitalisiert, um Aufträge agiler zu organisieren.
„Jetzt können die Reisenden uns ihre Reisewünsche viel effizienter mitteilen. Es kommen bessere Daten bei uns an, die es auch leichter machen, sie weiter zu verarbeiten oder perspektivisch zu automatisieren.“
Digitale Lösungen für mehr Orientierung im Bahnhof
Apps zur Navigation von Personen mit Sehbeeinträchtigungen könnten ein möglicher Weg sein, Reisenden Orientierung zu bieten und Mitarbeitende am Bahnhof zu entlasten. So hat DB Systel beispielsweise in zahlreichen Praxisversuchen in einem Forschungsprojekt untersucht, wie eine App anhand von Texterkennung Menschen mit Seheinschränkungen am Bahnhof helfen kann: „Wir haben überlegt, wie können wir den Reisenden mehr Selbstständigkeit durch Orientierung am Bahnhof geben und gleichzeitig die Mitarbeitenden entlasten?“ Eine mögliche Antwort ist hier künstliche Intelligenz.
„Die KI läuft auf dem Smartphone, blickt durch die Kamera des Smartphones in die Umgebung, liest und versteht die Schilder, die wir am Bahnhof haben, um bei Fragen zur Orientierung zu helfen: Wie komme ich zum Schließfach, wie komme ich zum Gleis?“, erklärt Marcus Sümnick. Zusätzliche Sensorik für Indoor-Navigation ergänzte die technischen Versuche. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt: viele Menschen mit Blindheit oder Seheinschränkung sind sehr gut darin, sich souverän an ihren Heimatbahnhöfen zu orientieren. Für viele andere Situationen und Bahnhöfe wird die digitale Unterstützung als großer Mehrwert wahrgenommen. Mit der DB Wegbegleitung hat ein Pilotprojekt bereits erfolgreich gezeigt, wie Reisende Unterstützung bei der Orientierung am Bahnhof erhalten können. In Zukunft könnten diese Ideen zu praktischen Lösungen für Reisende werden.